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DokumenttypDocTypeInterviewUndNamensartikel | Datum21. Februar 2022„Hundertprozentige Sicherheit? Gibt es nicht, sonst müssten alle in Einzelhaft“

Impfpflicht ja – nein? Ab 18 oder doch erst ab 50 Jahren? Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann will eine neue Phase im Umgang mit Corona – und die größte Reform des Familienrechts seit Jahrzehnten anstoßen.

Interviewter Dr. Marco Buschmann
Interviewer Sophie Garbe, Martin Knobbe
Medium Der Spiegel
Ausgabe Dr. Marco Buschmann im Interviw AusgabeNrVom

SPIEGEL: Sie haben die bayerische Staatsregierung indirekt der Tyrannei bezichtigt, weil Ministerpräsident Markus Söder die einrichtungsbezogene Impfpflicht de facto aussetzen wollte. Daraufhin wurde eine Entschuldigung von Ihnen gefordert – haben Sie sich schon entschuldigt?

Buschmann: Nein. Wenn ein Inhaber staatlicher Macht, in diesem Fall ein Ministerpräsident, sich selbst aussuchen will, welche Gesetze er anwendet und welche nicht, dann wäre das ein Schritt in Richtung Tyrannei. Dieser Begriff war bis ins letzte Jahrhundert hinein üblich für Machthaber, die sich nicht ans Gesetz halten. Darauf habe ich hingewiesen. Markus Söder hat ja diesen Fehler mittlerweile auch eingesehen, so lese ich seine jüngsten Äußerungen. Insofern war dieser Hinweis richtig und nichts, wofür man sich entschuldigen muss.

SPIEGEL: Man könnte Söder zugutehalten, dass er einfach die veränderte Lage berücksichtigt: Impfen hilft in der aktuellen Omikron-Welle gegen schwere Verläufe, aber nicht gegen Ansteckungen. Ist es dann nicht sinnvoll, so ein Gesetz noch mal zu hinterfragen?

Buschmann: Den Landesgesundheitsministern aller Länder ist bei der Debatte über die Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht die Frage gestellt worden: Seid ihr euch sicher, dass die Kosten-Nutzen-Abwägung hier für euch stimmt? Da wurde das einhellig unterstützt, auch aus Bayern. Auch die Versorgungslage in den Alten- und Pflegeheimen sei dadurch nicht gefährdet. Wer in Sorge wegen der Umsetzung dieses Gesetzes ist, kann immer seine Punkte artikulieren und versuchen, im parlamentarischen Verfahren ein Gesetz zu ändern. Aber die faktische Aussetzung geltenden Rechts durch Bundesländer ist keine mögliche Option.

SPIEGEL: Sind Sie selbst denn noch von der einrichtungsbezogenen Impfpflicht überzeugt?

Buschmann: Sie leistet einen Beitrag dazu, dass die Infektionsgefahr für vulnerable Gruppen reduziert wird. Das war für uns ein wichtiges Anliegen. Daher haben wir als FDP auch auf verpflichtende Tests in den Einrichtungen gedrungen. Die Impfung dort leistet auch einen Beitrag. Die Übertragung wird nicht völlig unterbrochen, aber sie wird immerhin gemindert. Es wird aber auch weiterhin darüber gesprochen werden müssen, ob die Kosten-Nutzen-Abwägung unter dem Strich positiv bleibt.

SPIEGEL: Auch hinsichtlich einer allgemeinen Impfpflicht werden derzeit Kosten und Nutzen abgewogen. Wie ist Ihre Haltung dazu?

Buschmann: Eine Impfpflicht ist natürlich ein schwerer Grundrechtseingriff. Man muss sich bei so einem Eingriff die Frage stellen, was das Ziel ist und ob es mildere Mittel gibt, um dieses zu erreichen. In meinen Augen können nur gewichtige Rechtsgüter der Allgemeinheit wie die Abwehr einer Überlastung des öffentlichen Gesundheitssystems einen solchen Eingriff rechtfertigen. Ob das derzeit tatsächlich noch eine drohende Gefahr ist, daran kann man zweifeln. Aber selbst, wenn wir diese unterstellen, ergibt sich die Frage: Brauchen wir dafür eine Pflicht ab 18? Wäre eine Impfpflicht ab 50 Jahren nicht genauso effektiv?

SPIEGEL: Sie sind also skeptisch, was die allgemeine Impfpflicht angeht.

Buschmann: Wir haben die Debatte bewusst in die Hände des Parlaments gegeben, dem will ich nicht vorgreifen. Aber dass es schwieriger wird, eine Impfpflicht zu begründen, wenn die Datenlage indiziert, dass die Infektionsgefahr an Dynamik verliert und keine Überlastung des Gesundheitssystems drohte, liegt wohl auf der Hand.

SPIEGEL: Gesundheitsminister Karl Lauterbach argumentiert nicht mit der aktuellen Situation, sondern mit einem präventiven Effekt: Wenn wir jetzt keine Impfpflicht einführen, bekommen wir es im nächsten Herbst vielleicht wieder mit einer tödlicheren Variante zu tun, auf die wir dann nicht vorbereitet sind.

Buschmann: Vorab: Ich möchte keinen Herbst mehr wie den letzten erleben. Darin sind wir alle einig. Bei der Frage, wie wir das vermeiden und die Grundrecht schützen, müssen wir die Dinge gründlich abwägen. Sollen Millionen Menschen verpflichtet werden, sich gegen ihren Willen impfen lassen zu müssen? Oder soll man das Risiko überfüllter Intensivstationen infolge einer neuen Variante in Kauf nehmen, von dem wir aber nicht wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit oder ob es überhaupt eintritt? Dazwischen müssen wir abwägen auf Basis dessen, was wir heute wissen. Mit solche Prognosen zu einem so weit in der Zukunft liegenden Zeitraum zu arbeiten, sind natürlich extrem schwierig. Hinzu kommt: Ob der Impfstoff gegen eine neue Variante hilft oder wie lange die Immunisierung anhält, können wir heute nicht mit Sicherheit einschätzen.

SPIEGEL: Diese Abwägung wäre vielleicht überflüssig, wenn es auch so gelungen wäre, mehr Menschen zu einer Impfung zu bewegen. Was ist da falsch gelaufen?

Buschmann: Als die Ampel gestartet ist und das Ziel ausgegeben hat, dass bis zum Ende des Jahres 30 Millionen Impfungen durchgeführt werden sollten, sind wir teils ausgelacht worden. Aber wir haben das tatsächlich geschafft. Deutschland war zum ersten Mal beim Impfen nicht Nachzügler, sondern Europameister. Von daher würde ich nicht sagen, dass die Kampagne in Gänze zu schwach war. Wir sollten nicht nachlassen, noch mehr niedrigschwellige Angebote zu schaffen und spezielle Zielgruppen direkt anzusprechen. Wir wissen aus Studien, dass sehr unterschiedliche Gruppen aus unterschiedlichen Motiven skeptisch sind oder sogar eine Abwehrhaltung entwickelt haben. Da müssen wir noch mehr passgenaue Aufklärungsarbeit leisten.

SPIEGEL: Die Union plädiert für ein Impfregister, auch um eine direkte Ansprache bestimmter Zielgruppen zu ermöglichen. Finden Sie das überzeugend?

Buschmann: In den vergangenen Jahren hat die Große Koalition zwischen zwei und vier Jahren gebraucht, um zentrale Register in anderen Bereichen aufzubauen. Das ist unfassbar lange. Und unser Gesundheitswesen ist bislang so wenig digitalisiert, dass es gerade in diesem Bereich kaum schneller gehen dürfte. Es braucht einen Betreiber, Personal, IT, Infrastruktur und so weiter. Man kann sich das also gerne wünschen, aber dann muss man auch erklären, wie so ein Aufbau in sechs Monaten gelingen soll, wenn es als Beitrag zur Bekämpfung der aktuellen Pandemie gemeint ist.

SPIEGEL: Die Ministerpräsidentenkonferenz hat am Mittwoch beschlossen, dass alle tiefgreifenderen Corona-Maßnahmen im März entfallen sollen. Halten auch Sie das für den richtigen Schritt?

Buschmann: Wir haben ja sehr bewusst die Rechtsgrundlage für die einschränkenden Maßnahmen bis Mitte März befristet. So wollten wir sicherstellen, dass diejenigen, die die Maßnahmen fortführen wollen, diese neu begründen müssen. Auf der Grundlage der aktuellen Modellrechnungen ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mit einer akuten Überlastung des Gesundheitssystems zu rechnen. Die Grundrechte müssen dann wieder so weit wie möglich zur Entfaltung kommen.

SPIEGEL: In einigen Staaten, die ihre Maßnahmen gelockert haben, sehen wir derzeit allerdings auch, dass wieder mehr Menschen an Covid sterben.

Buschmann: Jeder Mensch, der an dieser Krankheit stirbt, ist einer zu viel. Die Begründung für die Grundrechtseingriffe war immer das Verantwortungsbewusstsein, dass wir in Deutschland eine angemessene Gesundheitsversorgung für alle Menschen sicherstellen wollen. Und weil das in Gefahr war, haben wir diese Maßnahmen ergriffen. Wenn diese Gefahr nicht mehr besteht, gibt es auch keine Begründung mehr für flächendeckende, schwerwiegende Grundrechtseingriffe. Es gibt generell viele Dinge, die unser Leben negativ beeinflussen können, Risiken, denen wir uns selbst aussetzen und manchmal auch mit Risiken für andere verbunden sind. Wir können keine Gesellschaft der hundertprozentigen Sicherheit für jeden Einzelnen und gegen Alles errichten, weil wir sonst die Menschen wahrscheinlich alle in Einzelhaft schicken müssten. Das kann niemand wollen.

SPIEGEL: Corona wird also zu einem von vielen Risiken im Leben?

Buschmann: In dieser These stimmen ja alle überein. Auch die Mitglieder des Expertenrats sagen, dass Corona eine von vielen Krankheiten sein wird. Debattiert wird lediglich über den Zeitpunkt, ab dem dieser endemische Zustand erreicht sein wird.

SPIEGEL: Als im Januar das Robert Koch-Institut die Befugnis bekam, eigenständig zu bestimmen, wer wie lange als geimpft, genesen und getestet gilt, meldete ihr Ministerium rechtliche Bedenken an. Hat es Sie geärgert, dass Sie nicht erhört wurden?

Buschmann: Diese Frage hat so einen wesentlichen Einfluss auf die Wahrnehmung von Grundrechten der Betroffenen, dass eine stärkere gesetzliche Regelung erforderlich ist. Dazu haben wir innerhalb der Bundesregierung auch schon Formulierungen vorgeschlagen, mit denen wieder direkt im Gesetz festgelegt werden soll, wer als geimpft oder genesen gilt. Ich werbe dafür, dieses Problem so schnell wie möglich zu lösen. Ich bin zuversichtlich, dass mit der nächsten Änderung des Infektionsschutzgesetzes auch diese Regelung zum Genesenenstatus kommen wird.

SPIEGEL: Sollten Ihrer Meinung nach auch die Quarantäne-Regeln entfallen, die für viele Menschen, gerade Familien mit Kindern, die größte Herausforderung darstellen?

Buschmann: Es gilt hier das Gleiche wie für andere beschränkende Maßnahmen. Wenn sie medizinisch nicht mehr oder in dem entsprechenden Umfang zum Schutz überragender Gemeinschaftsgüter geboten sind, muss man sie milder gestalten oder aufheben.

SPIEGEL: Anders als bei den Corona-Maßnahmen herrscht bei gesellschaftspolitischen Fragen große Einigkeit in der Ampelkoalition. Sie haben vor Kurzem die »vermutlich größte Familienrechtsreform der letzten Jahrzehnte« angekündigt. Was kommt da auf uns zu?

Buschmann: In den letzten Jahrzehnten ist ein enormer Reformstau entstanden. Wir arbeiten im Familienrecht zum Teil mit Regelungen, die in ihrer Substanz aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts stammen. Ein Beispiel: Wenn ein Kind in eine Ehe zwischen Mann und Frau hineingeboren wird, ist der Ehemann der rechtliche Vater – selbst dann, wenn er das Kind nicht gezeugt hat. Aus sozialer Sicht mag diese Regelung Sinn ergeben. Doch warum sollen heute noch andere Maßstäbe gelten, wenn ein Kind, etwa nach einer anonymen Samenspende, in einer Ehe zwischen zwei Frauen geboren wird? Das heute geltende Recht behandelt beides völlig anders. Die andere Frau muss ein aufwendiges Adoptionsverfahren anstrengen, um rechtlich in dieselbe Stellung zu kommen, in der ein Mann per Gesetz sofort wäre. Das ist nicht zu begründen. Wir haben heute vielfältigere Lebensverhältnisse. Es gibt mehr Alleinerziehende, Regenbogenfamilien und gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Die in unserer Gesellschaft gelebte Vielfalt muss sich auch in den Gesetzen abbilden.

SPIEGEL: Ein Instrument, das Sie dafür einführen wollen, ist die Verantwortungsgemeinschaft. Was bedeutet das?

Buschmann: Aktuell kann man familiäre Beziehungen willentlich nur durch Ehe, Anerkennung der Vaterschaft oder Adoption begründen. Heute gibt es aber gesellschaftliche Bedürfnisse, auf die diese Instrumente nicht passen. Nehmen wir zwei Freunde, die im höheren Alter gleichberechtigt miteinander zusammenwohnen wollen, um sich im Alltag zu helfen und Verantwortung füreinander zu übernehmen, weil sie nicht ins Heim wollen. Da will man den anderen weder adoptieren noch heiraten. Trotzdem wollen beide vielleicht vorsorgen für den Fall, dass etwas passiert. Wenn einer zum Beispiel ins Krankenhaus kommt, soll der andere auch Auskünfte bekommen oder Entscheidungen treffen dürfen. Solche Dinge wollen wir mit der Verantwortungsgemeinschaft regeln. Denkbar sind auch unterschiedliche Stufen der Intensität, die für diese unterschiedlichen Situationen zur Verfügung stehen. Denn es ist ja etwas anderes, ob man gemeinsam lebt oder ob man sich beispielsweise als Alleinerziehende gegenseitig bei der Erziehung hilft und die Kinder von der Schule abholen können will, aber eben nicht zusammen lebt. Diese Flexibilität sollte das Instrument aufweisen.

SPIEGEL: Könnte man all das nicht auch per Vollmacht regeln?

Buschmann: Bei Vollmachten muss man aber über jeden Fall einzeln reden: Kontovollmachten, Auskünfte im Krankenhaus und so weiter. Ich halte das einfach für unpraktisch und aufwendig für die Einzelnen. Wenn es ums Geld verdienen geht, bieten wir den Menschen eine Unzahl an Rechtsformen an: AG, GmbH, GbR. Da gibt es viele Vehikel, um Kooperationen zu gestalten. Aber im Bereich der persönlichen Verantwortungsübernahme sind wir da sehr zurückhaltend. Das habe ich noch nie verstanden.

SPIEGEL: Kriegen Sie Kritik dafür ab, dass Sie am traditionellen Familienbild kratzen?

Buschmann: Ich muss mich schon teilweise wundern, was mir vorgeworfen wird. Aus Reihen der CSU heißt es in wilden Worten, ich würde die – sehr freundlich umschrieben - Polygamie in Deutschland einführen wollen. Ich weiß gar nicht, wie ich so eine Aussage bewerten soll und ob das ernst gemeint ist oder nur der verzweifelte Versuch, die Wahrnehmungsschwelle zu überschreiten.

SPIEGEL: Was ist das Erste, was Sie in diesem Bereich angehen werden?

Buschmann: Wir werden in Kürze Reformvorschläge zum Namensrecht vorlegen. Auch da haben wir in Deutschland völlig überholte Regelungen, die zu seltsamen Situationen führen. Paare können heute etwa keinen gemeinsamen Doppelnamen annehmen, wenn sie heiraten. Das wollen wir ändern. Die Themen Abstammungsrecht und Verantwortungsgemeinschaft sind deutlich komplexer. Aber mein Ehrgeiz ist, dass wir das jetzt zügig angehen. Es gibt eine starke Spannung zwischen der rechtlichen Situation und der Wirklichkeit der heutigen Gesellschaft. Und diese Spannung wollen wir so schnell wie möglich auflösen.