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DokumenttypDocTypeInterviewUndNamensartikel | Datum22. März 2022„Wir hatten keinen Tag Schonfrist“

Mit dem Westfalen-Blatt sprach Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann über den Corona-Öffnungskurs und die Verfolgung von Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg.

Interviewter Dr. Marco Buschmann
Interviewer Stefan Biestmann, Elmar Ries
Medium Westfalen-Blatt
Ausgabe Mit dem Westfalen-Blatt sprach Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann über den Corona-Öffnungskurs und die Verfolgung von Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg. AusgabeNrVom

Hätten Sie sich die ersten 100 Tage als Minister so vorgestellt?

Dr. Marco Buschmann: Früher sagte man, eine Regierung bekomme 100 Tage Schonfrist, ehe man sie bewertet. Wir hatten keinen einzigen Tag Schonfrist. Im Gegenteil: Schon in der Phase der Regierungsbildung hatten wir es mit der Delta-Variante des Coronavirus zu tun. Die Welle haben wir erfolgreich gebrochen. Dann kam die Omikron-Welle – und jetzt herrscht auch noch Krieg in Europa. Dass man als Regierung unter solchen Umständen startet, hat sich natürlich niemand gewünscht.

Der Ukraine-Krieg ist im Moment das Thema. Sie haben erklärt, die Bundesregierung verfolge dort Kriegsverbrechen. Was bedeutet das?

Kriegsverbrecher dürfen sich nirgendwo in der Welt sicher fühlen. Der Generalbundesanwalt ermittelt und sammelt Hinweise und Beweise für Kriegsverbrechen – zum Beispiel auch Augenzeugenberichte von Geflüchteten. Dann wird er Beschuldigte ermitteln und diese, sollten sie gefasst werden, in Deutschland vor Gericht stellen. Das ist juristisch möglich, selbst wenn Täter und Opfer keine Deutschen sind und die Taten nicht in Deutschland stattfanden. Wir haben in Deutschland mit diesem Vorgehen schon während des Syrien-Krieges Erfahrungen gesammelt – und erfolgreiche Pionierarbeit geleistet, die international respektiert wird. Deutschland steht dabei natürlich in einem dauerhaften Austausch mit den europäischen Partnern.

Abseits des Krieges gab es zuletzt als großes Thema nur Corona: Trotz einer Rekordinzidenz und weiterhin hoher Zahlen an Todesfällen im Zusammenhang mit dem Coronavirus halten Sie an den Lockerungen fest. Warum gehen Sie ins Risiko?

Die aktuelle Lage unterscheidet sich deutlich von der im Dezember. Die Inzidenz hat sich inzwischen sehr stark entkoppelt von der Situation in den Kliniken, die seit mehreren Wochen weitgehend stabil ist. Im freiheitlichen Rechtsstaat gilt die Regel: Wenn die Gefahr zurückgeht, muss ich auch Gefahrenabwehrmaßnahmen zurücknehmen.

Aber Sie ernten viel Kritik – auch von Wissenschaftlern und Ärzten. Reicht es, den Wegfall der Corona-Regeln juristisch zu begründen?

Wir beobachten und analysieren die gesamte Lage sehr gründlich und unter verschiedenen Gesichtspunkten. Natürlich ist jeder Tote ein Toter zu viel. Aber bei mehr als der Hälfte der Todesfälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus handelt es sich um Menschen, die ungeimpft sind. Es darf – auch aus ethischen Gründen – nicht sein, dass wir eine gesamte Gesellschaft weiter in Haftung nehmen, weil einige für sich ohne Not unnötige Risiken in Kauf nehmen..

Die Virologin Sandra Ciesek spricht davon, dass besonders gefährdete Personengruppen die „großen Verlierer“ der Lockerungen sind. . .

Gerade der Schutz besonders gefährdeter Gruppen bleibt wichtig. Deshalb gelten ja weiter Masken- und Testpflichten etwa in Krankenhäusern und Pflegeheimen, wo sich viele Menschen aufhalten, die besonders vulnerabel sind. Im Alltag bietet ansonsten eine FFP2-Maske einen sehr hohen Schutz vor einer Infektion. Personen, die besonderen Risiken ausgesetzt sind, können sich also weiterhin effektiv mit einer Maske schützen. Die Menschen sollen aber in größerem Maße selbst entscheiden können, welchen Schutz sie in der gegenwärtigen Situation benötigen. Es geht uns um eine Stärkung der Eigenverantwortung.

In der Ministerpräsidenten-Konferenz (MPK) hat es wegen des Infektionsschutzgesetzes gekracht wie lange nicht mehr. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) bezeichnete Ihre Pläne als „juristischen Murks“.. .

Ich glaube, bei solchen Beiträgen sind auch ein paar Krokodilstränen geflossen. Viele derjenigen, die jetzt am lautesten von angeblicher Einigkeit in der Vergangenheit sprechen, wichen eben in jener Vergangenheit als Erste von den Beschlüssen der MPK ab – insbesondere im Süden der Republik. Ich halte die Kritik einiger Ministerpräsidenten daher für taktisch motiviert und überzogen. Aber natürlich sind und bleiben wir im engen Austausch mit den Ländern.

Länder können künftig Hotspot-Regionen ausrufen, in denen strengere Corona-Regeln gelten. Erste Länder haben bereits angekündigt, das gesamte Bundesland zum Hotspot zu erklären. Gibt es bald 16 große Hotspot-Regionen?

Die Regelung ist klar: Man kann eine Stadt, einen Kreis oder mehrere Kreise als Hotspot benennen. Theoretisch kann man auf diese Weise auch ein ganzes Bundesland zur Hotspot-Region erklären. Aber es müssen dann auch flächendeckend im gesamten Bundesland die Voraussetzungen dafür vorliegen. Das ist entweder der Fall, wenn die Ausbreitung einer neuen noch gefährlicheren Virusvariante festgestellt wird, oder wenn die lokale Gesundheitsversorgung nicht mehr sichergestellt werden kann. Eine Landesregierung kann also nicht einfach sagen: Nur weil es in einem Zipfel des Landes eine schwierige Lage gibt, erkläre ich gleich alle Kreise zum Hotspot. Zudem muss der Landtag sowohl das Vorliegen der konkreten Gefahr als auch die Anwendung konkreter Maßnahmen in einer konkreten Gebietskörperschaft beschließen. Das sichert Transparenz und demokratischen Legitimation.

Für die ebenfalls kontrovers diskutierte Impfpflicht liegen vier Vorschläge auf dem Tisch: Es gibt Anträge für eine Impfpflicht ab 18 Jahren und ab 50 Jahren. Die Unionsfraktion schlägt zudem einen Stufenplan vor, bei dem zunächst ein Impfregister aufgebaut wird. Und ein Modell richtet sich ganz gegen eine Impfpflicht. Welchem Antrag stimmen Sie zu?

Für die Impfpflicht braucht man eine gute Begründung. Denn sie ist ein Grundrechtseingriff in einem besonders sensiblen Bereich. Die Impfung ist ein sehr wirksames Instrument gegen schwere Verläufe und Tod. Daher rate ich jedermann, sich impfen und boostern zu lassen. Wir dürfen aber keine falschen Versprechen abgeben. Denn das würde das Vertrauen in Staat und Politik gefährden. Zu Beginn der Pandemie gab es die Hoffnung, das Virus mit dem ersten Lockdown zu besiegen. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Später erfüllten sich auch nicht die Hoffnungen auf ein Ende der Pandemie mit dem ersten wirksamen Impfstoff. Denn das Virus verschwand nicht, auch wenn die Impfstoffe natürlich ein Segen für uns alle sind. Klar ist: Das große Versprechen, die Pandemie endgültig hinter uns zu lassen, können wir auch mit der Impfpflicht nicht machen. Denn niemand weiß heute genau, welches Szenario uns im Herbst bevorstehen wird.

Laut Medienberichten tendieren Sie zu einer Impfpflicht ab 50 Jahren. . .

Ich bin zumindest skeptisch gegenüber einer Impfpflicht ab 18 Jahren. Denn die befürchtete Überlastung des öffentlichen Gesundheitssystems käme nach den Modellrechnungen der Wissenschaft vor allem durch Ungeimpfte zustande, die älter als 50 oder 60 Jahre sind. Man kann also zumindest damit argumentieren, dass eine Impfpflicht für Menschen ab 50 Jahren ähnlich wirksam wäre, wie eine Impfpflicht ab 18 Jahren. Und da wäre die Pflicht für eine kleinere Gruppe das mildere Mittel. Und unsere Verfassung verlangt, dass wir uns stets für das mildeste Mittel, das gleich effektiv ist, entscheiden. Ich selbst hatte mich dafür ausgesprochen, dass diese Debatte als Gewissensentscheidung ohne Fraktionsbindung im Bundestag geführt werden sollte. Dem greife ich jetzt nicht vor und wäge noch ab.