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DokumenttypDocTypeRede | Datum25. September 2024Rede bei der Eröffnungsveranstaltung des 74. Deutschen Juristentags

Rede des Bundesministers der Justiz, Dr. Marco Buschmann, anlässlich der Eröffnungsveranstaltung des 74. Deutschen Juristentags in Stuttgart am 25. September 2024

Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, lieber Stephan Harbarth,
sehr geehrter Herr Präsident des 74. Deutschen Juristentages, lieber Professor Radtke,
liebe Frau Kollegin Gentges,
lieber Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart, lieber Herr Dr. Nopper,
sehr geehrte Frau Winkelmeier-Becker,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

haben Sie herzlichen Dank für die Einladung und auch für die Möglichkeit, mit Ihnen ein paar Gedanken zu teilen.

Herr Radtke wies darauf hin, dass wir in einer Zeit leben, die von vielen Herausforderungen geprägt ist. Das Wort der multiplen Krise beschreibt diesen Zustand. Ich muss die Stichworte nicht wiederholen, die Sie täglich in den Zeitungen lesen: Krieg in Europa, Krieg im Nahen Osten, die Frage der künftigen Energieversorgung, die Frage der Quellen künftigen Wohlstands in unserem Land, die Frage des Zusammenhalts, die Frage, wie wir mit den Herausforderungen großer, auch irregulärer Migrationsströme, wie wir dieser Herausforderung gerecht werden, und so weiter und so fort.

Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen, die für ein gesellschaftliches Klima sorgen, welches ich im Gegensatz zu den Schimpf-Arien, die wir gehört haben, am besten als „Moll“ bezeichnen möchte, will ich meine erste Anmerkung einer, wie ich finde, ganz realen Quelle der Zuversicht widmen. Denn meine feste Überzeugung ist, dass wir alle diese Herausforderungen bestehen können, wenn wir nur fest daran glauben, dass man es mit genug Einsatzbereitschaft und genug harter Arbeit angeht. Und diese Überzeugung ist keine Naivität.

Meine erste Anmerkung möchte ich – und keine Sorge, ich versuche, kein Co-Referat zu halten zu dem Vortrag des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts – einmal der Zuversicht widmen, die wir aus dem 75. Jubiläumsjahr unserer Verfassung schöpfen können. Natürlich sind das schwierige Herausforderungen, denen wir uns heute stellen müssen. Aber überlegen wir doch bitte einmal, in was für einer Zeit und unter welchen Bedingungen die Mütter und Väter des Grundgesetzes die mutige Entscheidung getroffen haben für Prinzipien wie Menschenwürde, demokratische Willensbildung, eingehegt durch individuelle Grundrechte, die geachtet und geschützt und verteidigt werden durch eine unabhängige Justiz, der man in Form des Bundesverfassungsgerichts sogar die Macht in die Hand gegeben hat – was eine völlig neue Form der Kontrolle von Macht im damaligen Europa war –, auch demokratisch verabschiedete Gesetze außer Kraft zu setzen. Was war das für eine Zeit? Die Menschen waren nicht auf Rosen gebettet. Sie lebten in einem Land, das von Trümmern übersät war: tatsächlichen Trümmern, moralischen Trümmern. Sie lebten in einem Land, in dem viele Familien Trauerarbeit leisten mussten, weil sie Männer, Söhne, Brüder verloren hatten, und bei Bombenangriffen genauso Frauen, Schwestern, Töchter. Wir reden von einem Land, in dem es, wie die Historiker schätzen, zwischen zwei bis drei Millionen Vergewaltigungen von Frauen gab: in einer Zeit, als das tabuisiert wurde und es praktisch keine Möglichkeiten gab, sich zu offenbaren oder mitzuteilen. Wir reden von einem Land, in dem die Versorgungslage nach wie vor prekär war und das nicht wusste, was wird.  Wenn die Mütter und Väter des Grundgesetzes in einer solchen Situation den Mut und die Kraft aufgebracht haben, an Prinzipien wie Menschenwürde, Demokratie, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit zu glauben, dann müssen wir das in unserer heutigen Situation erst recht tun.

Das Grundgesetz war und ist die beste verfassungsrechtliche Ordnung, die je auf deutschem Boden galt, und wir sind mit dieser Ordnung in der Lage, alle Herausforderungen zu lösen. Wenn die Mütter und Väter des Grundgesetzes in ihrer schlimmen Situation diese Kraft hatten, dann müssen wir heute diese Kraft erst recht aufbringen, meine sehr geehrten Damen und Herren.

Und es gibt eine zweite Quelle der Zuversicht. Denn das Grundgesetz war ja keine Schönwetterverfassung. So mancher flüchtet sich gerne in die Vorstellung einer „guten alten Zeit“, in der alles wohlgeordnet war und es keine Probleme gab. Aber wenn wir im Kopf die Geschichte des Grundgesetzes durchgehen, die natürlich in den ersten Jahrzehnten eine Geschichte Westdeutschlands war, weil es eben die Verfassung Westdeutschlands war, dann war das doch keine Geschichte von eitel Sonnenschein: die Wiederbewaffnung, der Kalte Krieg, die ständige Angst davor, dass eine falsche Entscheidung in Moskau oder Washington das Ende der zivilisierten Welt bedeuten könnte; die Auseinandersetzung in den sechziger Jahren, die schmerzhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit; der RAF-Terror, die Energiekrise der siebziger Jahre mit autofreien Sonntagen, die Wirtschaftskrisen und die Stagflation, die wir bekämpfen mussten – das alles war doch nicht eitel Sonnenschein.

Und auch im vereinigten Deutschland hatten wir Migrationskrisen. Wir hatten nach dem 11. September 2001 eine völlige Neuausrichtung der internationalen Sicherheitspolitik, in der Deutschland seine Rolle finden musste. Und erst wenige Jahre zuvor gab es auch Krieg in Europa auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawiens, auch mit großen Herausforderungen an die Frage, was das für ein Land wie Deutschland und seine Verfassung bedeutete – übrigens mit einem Justizminister, der die eigene Regierung vor dem Bundesverfassungsgericht verklagt hat.

Das alles waren Herausforderungen, und die Herausforderungen von heute sind eben keine neuen. Das ist die zweite Quelle der Zuversicht. Wenn es nicht nur die Mütter und Väter des Grundgesetzes geschafft haben, die Kraft aufzubringen, in der Situation, wie das Land war, nach vorne zu blicken und an die Prinzipien von Menschenwürde, Demokratie, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit zu glauben; wenn es unseren Vorgängern, den Generationen, die uns vorangegangen sind, immer wieder gelungen ist, existenzielle geopolitische Krisen, eine neue Sicherheitssituation, die Herausforderung von Terror, die Herausforderung ökonomischer Krisen und auch die Herausforderung von Migrationskrisen zu bestehen, dann ist das doch eine realistische Quelle der Zuversicht. Wenn die damals es geschafft haben, mit der Ordnung des Grundgesetzes diese Krisen zu bewältigen, dann müssen wir doch die Zuversicht haben, dass wir es erst recht schaffen, meine Damen und Herren. Das ist die zweite Quelle der Zuversicht aus 75 Jahren Grundgesetz.

Ich möchte einen zweiten Gedanken mit ihnen teilen, und er hat viel mit der Geschichte dieser Institution zu tun. Der Deutsche Juristentag, der seine Geschichte zurückführt bis ins Jahr 1860, ist ja in Wahrheit ein Kind der Aufklärung. Weil mit der Aufklärung der Gedanke aufkam, dass wir öffentliche Angelegenheiten öffentlich diskutieren und jeder, der ein Argument, hat sich auch an dieser öffentlichen Debatte beteiligen kann. Das war nicht selbstverständlich. Thomas Hobbes, der Vater moderner Staatlichkeit, sprach noch davon, dass es ein Ärgernis sei, wenn in staatlichen oder öffentlichen Angelegenheiten Zwietracht unter den Bürgern herrschte. In der Wissenschaft wurde das später „civil silence“ genannt – der „ordentliche“ Bürger habe zu öffentlichen Angelegenheiten zu schweigen. Das ist das völlige Gegenteil von dem, was wir für richtig halten. Ich finde, eine der Erfolgsgeschichten auch unseres Grundgesetzes ist, dass in öffentlicher Debatte, im Parlament, in Form von Rede und Gegenrede, dass öffentlich gestritten werden kann. Das ist das beste Instrument, um das in der Gesellschaft verstreute Wissen zusammenzutragen. Es kommt zu weit besseren Lösungen. Ich weiß, dass es einige gibt, die sagen: „Warum wird so viel gestritten? Warum kann nicht irgendwie ein schlauer Mann oder eine schlaue Frau kommen oder eine kleine Gruppe von schlauen Männern und schlauen Frauen, die uns einfach sagen, was das Richtige ist?“ Aber überall dort, wo man so politische Verhältnisse gestaltet, ist man nicht erfolgreicher als in unserer offenen Gesellschaft, in der der Streit öffentlich ausgetragen wird. In China gibt es in weiten Teilen der Bevölkerung nach wie vor bittere Armut, bei allem Respekt, den man vor der Leistung der letzten 20 Jahre dort haben muss. Und auch Russland, das von einigen, die vielleicht autoritäre Neigungen haben, jetzt immer wieder genannt wird: Wie geht es den Menschen dort? Das Durchschnittseinkommen beträgt dort 700 bis 800 Euro pro Monat.

Länder, in denen autoritär geherrscht und geführt wird, sind nicht erfolgreicher. Wir haben das auch bei den Krisen der jüngsten Vergangenheit gesehen. Sicher, in Deutschland ist bei der Bewältigung der Corona-Krise auch nicht alles perfekt gelaufen. Weil es Menschenwerk ist. Aber China hat seine Bürgerinnen und Bürger noch in den eigenen Wohnungen eingesperrt hat, während wir schon die Schritte wieder in die Normalität gegangen sind: Das zeigt, dass autoritäre Entscheidungsmechanismen nicht zu mehr Erfolg und besseren Ergebnissen aus der Sicht der Menschen führen. Auch diese Veranstaltung hier ist ein Beweis dafür – und deshalb dürfen wir sie uns auch nicht nehmen lassen –, dass die öffentliche Debatte, ja teilweise auch der öffentliche Streit der Motor von Fortschritt sind. Für all diejenigen, die das jetzt vielleicht für eine Banalität halten, möchte ich auf das zu sprechen kommen, was Herr Radtke gerade sagte.

Dieser Mechanismus der Entscheidungsfindung, in öffentlicher Debatte zu streiten, wird ja nicht nur dadurch gefährdet, dass falsche Argumente und Lügen eingeschleust werden, dass sie verkleidet werden mit einem Mäntelchen scheinbarer Vertrauenswürdigkeit, indem seriöse Quellen imitiert werden – das ist eine Strategie.

Die andere Strategie lautet, die öffentliche Debatte dadurch unmöglich zu machen, dass man sie mit Beschimpfungen flutet, mit Dominanzgesten, damit normale Menschen überhaupt keine Freude mehr haben an der öffentlichen Debatte. Etwas vornehmer als Steve Bannon, von dem der Ausspruch bekannt ist „Flood the Zone with…“ – ich traue es mich gar nicht vor so einem erlauchten Publikum zu sagen – „…Shit“, etwas vornehmer hat es ein anderer Vordenker des Rechtspopulismus ausgedrückt, der sagte: „Wir wollen nicht auf die Cocktailparty gehen und ein neues Argument einführen, wir wollen die Cocktailparty zerstören.“ Das ist die Idee, gar nicht mehr in der Sache zu streiten, gar nicht mehr mit Argumenten zu arbeiten, sondern ein Klima zu verbreiten, in dem ein zivilisierter, bürgerlicher, höflicher Mensch überhaupt keine Lust mehr hat, sich an Debatten zu beteiligen.

Das ist der Grund, warum es etwa auf Twitter heute so zugeht, wie es dort zugeht. Und das macht keinen Spaß. Wenn ich es nicht beruflich müsste, würde ich, glaube ich, mich nicht mehr auf diese Plattformen trauen, weil dort ein Klima verbreitet wird, in dem gar nicht mehr gehört wird, was man sagt, sondern in dem Lautstärke alles übertönt. Nicht nur die Des- und Fehlinformation ist eine Herausforderung. Wir müssen auch darum kämpfen, dass es nach wie vor Plattformen gibt, in der man öffentlich hart in der Sache, aber fair im Umgang miteinander streiten kann.

Und deshalb gilt mein herzlicher Dank dem Deutschen Juristentag dafür, dass Sie eine solche Plattform bewahren. Wir dürfen es aber nicht nur hier in den Sälen tun. Wir müssen es auch bei den Geburtstagen und bei den Grillpartys tun. Und wir müssen all denjenigen, die mit schlechter Laune versuchen, ein Klima zu verbreiten, in dem keine Debatte mehr möglich ist, einfach mal ein Stoppschild aufstellen. Nicht, indem wir sie zurück anschreien, sondern indem wir ihnen die Frage stellen: „Was ist es denn, was du willst? Hast du denn auch eine positive Idee, wie wir die Zukunft gestalten wollen?“ Nur meckern reicht nicht.

Ich glaube, das ist eine Aufgabe, die fundamental für das Gelingen von liberaler Demokratie ist. Liberale Demokratie bedeutet nicht, dass nur einige Spezialisten oder einige Abgeordnete die Debatten führen. Liberale Demokratie bedeutet, dass sich aus der Gesellschaft heraus engagierte Bürgerinnen und Bürger beteiligen, dass sie Freude daran haben, dass sie in den Vereinen, in den Verbänden, nicht nur in den Parteien, auch über politische und öffentliche Angelegenheiten sprechen, ihre eigene Perspektive einbringen und nicht dadurch abgehalten werden, dass ein Klima von Verärgerung, Hetze und schlechter Laune verbreitet wird. Das ist eine zentrale Aufgabe – neben dem Kampf gegen Desinformation –: uns zu wehren gegen diejenigen, die die Menschen zurück ins Privatleben drängen wollen, die sie aus dem öffentlichen Diskurs heraus drängen wollen, die die alte Idee der „civil silence“ wieder erwecken wollen, weil sie in Wahrheit autoritäre Verhältnisse wollen. Dagegen müssen wir uns alle wehren, meine sehr geehrten Damen und Herren.

Ich möchte einen dritten Gedanken mit Ihnen teilen, und dann bin ich auch durch – aller guten Dinge sind drei. Bei diesem dritten Gedanken begebe ich mich jetzt vielleicht ein bisschen auf Glatteis. Ich weiß, dass hier Menschen versammelt sind, die rechtsgestalterisch tätig sein wollen – das ist ihre Motivation und das ist auch gut so –, die Ideen umsetzen wollen, die Recht verändern wollen, die Recht vielleicht auch ausweiten wollen. Und jetzt komme ich mit meiner Nebentätigkeit. Sie wissen ja, ich bin Bundesminister der Justiz. Und nebenbei habe ich mir noch einen Sonderauftrag eingefangen, nämlich mich um das Thema Bürokratieabbau zu kümmern. Und ich weiß, einige werden jetzt denken: „Um Gottes Willen! Jetzt kommt der Justizminister auf eine Veranstaltung, in der Menschen darüber nachdenken wollen, wie wir Recht ändern wollen, wie wir Recht vielleicht auch ausweiten wollen, wie wir vielleicht auch Lücken schließen wollen, und erzählt uns etwas über Bürokratieabbau.“ Keine Sorge, so plump soll es nicht sein. Aber ich möchte ihnen drei Eindrücke schildern und ihnen meine Überlegungen dazu mitteilen, was bei der Gestaltung von Recht weiter nötig ist. Das Recht darf nichts sklerosieren. Es muss fortentwickelt werden. Und natürlich: Wenn neue Lebenssachverhalte auftauchen, muss sich das Recht auch diese neuen Lebenssachverhalte erschließen. Aber ich möchte ein paar Beobachtungen mit ihnen teilen.

Ich saß neulich mit Landräten zusammen. Sie haben mir berichtet, dass das Vergaberecht sich in den letzten Jahren so verändert habe, weil kluge Leute darin einen ökonomischen Hebel sehen, um vergaberechtsfremde Ziele durchzusetzen. Das hat dazu geführt, dass in den Vergabestellen der deutschen Kommunen heute zwei- bis dreimal so viele Menschen arbeiten wie früher, arbeiten müssen, damit überhaupt noch rechtssichere Vergaben durchgeführt werden können. In einer Zeit des Fach- und Arbeitskräftemangels verwenden wir heute zwei- bis dreimal so viele Menschen wie früher, um noch rechtssicher vergeben zu können. Mich hat das nachdenklich gemacht. Gleichzeitig stellen wir fest, dass in den Kommunen als untere Ausländerbehörden Dinge passieren wie in Bielefeld – Sie wissen alle, wovon ich spreche: Der Täter von Solingen war ursprünglich in Bielefeld untergebracht; er hätte abgeschoben werden müssen und hätte abgeschoben werden können. Es gab keine rechtlichen Hindernisse, auch keine tatsächlichen Hindernisse. Man hat aber ihn nicht vorgefunden. Da fehlt möglicherweise Personal, um dort Recht durchzusetzen.

Und ich schildere eine dritte Sache, gar nicht in Zuspitzung: Auf europäischer Ebene gab es die Idee, dass wir Nachhaltigkeitsziele dadurch stärken, dass wir die Berichtspflichten ausweiten. Sie wissen, was ich meine: die CSRD, also die Richtlinie über Nachhaltigkeitsberichterstattung – eine abstrakt gute Idee. Sie wurde mit viel Verve auf europäischer Ebene ausgebaut und umgesetzt. Man könnte denken, dass es Leute gibt, die sich darüber freuen: Das ist ja quasi eine staatliche Absatzgarantie für Wirtschaftsprüferleistungen. Mittlerweile sind aber alle der Meinung, dass wir es in einer Art und Weise übertrieben haben, dass es gar nicht mehr möglich sein wird, den Anforderungen der Richtlinie überhaupt nachzukommen. Das sage nicht nur ich. Ich will das nur einmal betonen, damit Sie nicht glauben, dass es irgendwie eine parteipolitische Perspektive sei. Das sagt auch Mario Draghi. Das sagt nicht der Chef eines radikal-libertären oder ultramarktwirtschaftlichen Thinktanks. Das sagen mittlerweile viele prominente deutsche Wirtschaftsexperten.

Warum habe ich Ihnen diese drei Anekdoten geschildert? Mich treibt Folgendes um: Recht ist ja nicht empirisch nachweisbar. Recht ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Recht ist eine Idee. Wir können sie nicht mit der Lupe nachweisen, diese Idee, auch nicht mit dem Mikroskop. Sondern Recht ist eine Idee, die danach strebt, soziale Tatsache zu werden. Recht ist eine Idee, die den Anspruch hat, soziale Tatsache zu werden – dergestalt, dass sich Menschen in ihrem tatsächlichen Verhalten an ihr orientieren.

Und deshalb ist der uralte Rechtsgrundsatz „ultra posse nemo obligatur“ nicht nur eine schuldrechtliche Frage. Es ist nicht nur eine Frage des Umgangs von Gläubiger und Schuldner miteinander. Wenn das Recht beginnt, Dinge einzufordern, die gar nicht mehr geleistet werden können, dann begibt sich das Recht in Selbstwiderspruch zu seiner eigenen Idee: nämlich der Idee, soziale Tatsache zu werden.

Und deshalb werden wir als diejenigen, die rechtsgestalterisch tätig sein wollen, uns viel stärker als vielleicht in der Vergangenheit die Frage stellen müssen: Wie verwirklichen wir eigentlich die Regulierungsziele, die wir beabsichtigen? Geht das nicht vielleicht auch in einer Form, die es leichter macht, KI oder Digitalisierung einzusetzen, in einer Welt, in der Arbeitskräfte und Fachkräfte fehlen? Ist es ökonomisch überhaupt zumutbar, den Unternehmen bestimmte Verpflichtungen auch noch aufzuerlegen? Oder bewegen wir uns hier im Bereich der wirtschaftlichen Unmöglichkeit oder der subjektiven Unmöglichkeit? Das ist keine Absage an rechtsgestalterische Kreativität und an die Idee, dass das Recht sich neue Lebensfelder und Sachverhalte erschließen muss. Aber wenn wir das Recht nicht so gestalten, dass es möglich ist, seinen Anforderungen nachzukommen, dass es auch dem Staat möglich ist, es durchzusetzen, werden wir ein Recht schaffen, das sich sehr schwer tun wird, soziale Tatsache zu werden. Die Menschen werden nicht akzeptieren, wenn wir ein Ausländer- und Aufenthaltsrecht haben, das faktisch nicht durchgesetzt wird. Richterinnen und Richter berichten mir, dass es eigentlich egal sei, welche Entscheidungen sie treffen, weil diese nicht mehr durchgesetzt würden. Wenn Recht nicht so gestaltet wird, dass es nicht unmöglich ist, dass es zur sozialen Tatsache werden kann, dass wir es praktisch auch anwenden und durchsetzen, dann begibt sich das Recht in Widerspruch zu seiner eigenen Idee.

Und diesen Gedanken möchte ich mit Ihnen teilen. Und deshalb lassen Sie mich als letztes sagen: Ich weiß, es sind schwere Zeiten, aber die gab es auch schon in der Vergangenheit. Und ich bin genauso davon überzeugt, dass diese grundgesetzliche Ordnung, die es ermöglicht, dass wir offene Debattenräume haben, dass wir miteinander um die beste Lösung streiten können, dass diese Ordnung das Beste ist, was Deutschland in seiner Geschichte passiert ist. Und weil es in der Vergangenheit so erfolgreich war, sollten wir auch die Zuversicht besitzen, dass wir mindestens weitere 74 Deutsche Juristentage erleben, mindestens weitere 75 Jahre Grundgesetz und dass wir auch in Zukunft ein wohlhabendes, lebenswertes Land sind, das sich den Prinzipien von Menschenwürde, Demokratie, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit verschreibt und damit eine gute Zukunft vor sich hat.

Ich danke Ihnen.

‒ Es gilt das gesprochene Wort! ‒